You are perfect

Irgendwie möchte doch jede*r perfekt sein. Den perfekten Körper haben, die perfekte Frisur, die perfekte Beziehung, das perfekte Zuhause, den perfekten Urlaub und last but not least natürlich den perfekten Job.

Auf den sozialen Netzwerken wimmelt es nur so von Bildern, die das perfekte Leben der anderen spiegeln. Oh, ich vergaß, das perfekte Abendessen muss es auch noch sein. Farblich perfekt abgestimmt, gleichzeitig gesund und knackig, um den perfekten, gesunden Lebensstil zu spiegeln, aber natürlich auch unglaublich appetitlich, um die Magensäfte beim Betrachter fließen lassen. Und natürlich den Neid.

Im Prinzip ist es doch so. All diese Bilder vom perfekten Leben der anderen sind perfekt, um Neid zu erzeugen.

Meine Cousine Ira beispielsweise lebt im sonnigen Griechenland. Sie ist wunderschön und sportlich und arbeitet natürlich als Yogalehrerin unter freiem Himmel. Die Bilder, die sie postet zeigen schöne, glücklich strahlende Menschen, bunter Tücher wehen in der leichten Brise, während Ira ihren perfekten Körper in unmögliche, aber äußerst elegenante Stellungen bringt und im Hintergrund, das Meer türkis schimmert. Aber natürlich hat Ira auch Freizeit. Die Work-Life-Balance ist schließlich ein wichtiger Faktor im perfekten Leben. Dort sieht man sie feiern, während ihr wunderschöner Mann ihr eine obstbedeckte Torte in die Kamera hält auf der die Zahl 27 prankt. Die Bildunterschrift: 27 und ich stehe dazu. Denn Alter spielt keine Rolle, wenn das Leben schön ist.

Ich habe das jetzt nicht erfunden. Ich habe nur beschlossen, Ira auf den sozialen Netzwerken nicht mehr zu folgen. Ich habe genug Bilder im Kopf von ihrem perfekten Leben, um Träume in meinem Kopf zu verfestigen und manchmal helfen sie auch, mich dazu aufzuraffen, einen Sonnengruß zu machen, auch wenn ich mal wieder abends vor Erschöpfung fast zusammenbreche.

Aber ganz ehrlich, ich fühle mich der 72 manchmal näher als der 27 und vor meinem Fenster ist im Augenblick nicht das in der Sonne schimmernde Meer zu sehen, sondern eine ausgeblichene tibetische Fahne, die nur nicht im Wind weht, weil sie durch den Regen so schwer geworden ist, dass sie womöglich bald der Schwerkraft nachgibt und auf dem Boden landet. Regelmäßig Yoga habe ich seit über 10 Tagen nicht gemacht, weil mal mir wieder die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung gemacht hat und mein Körper und die Schmerzen tun entsprechend ihr Übriges.

Mein Leben und ich fühlen sich gerade alles andere als perfekt an.

Aber was ist eigentlich perfekt? Der Duden sagt: vollendet. Hm.

Ok, und weiter? vollkommen, tadellos, unübertrefflich

Ja, irgendwie hätten wir das vermutlich alle gerne. Aber vermutlich wäre dann alles auch verdammt langweilig. Denn wer bestimmt denn, was vollkommen und tadellos ist? Ist es nicht eher so, dass der eine den Tag am Meer perfekt findet, der andere lieber im Wald auf dem moosigen Boden liegt und die andere wiederum am liebsten am Pool mit einem Cocktail in der Hand und jeder Menge Freunden um sich herum die Sonne aufgehen sieht?

Für meine beste Freundin ist der perfekte Mann optisch genau das Gegenteil von meinem Traummann. Wer von beiden ist denn nun perfekt? Vermutlich beide, auf ihre Art. Denn in einem sind wir uns einig: glücklich soll er uns machen, sonst wäre er schließlich kein Traummann.

Ist es nicht letztlich so? Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Und macht nicht manchmal gerade das Unvollkommene etwas perfekt? Die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen, die Lachfalten, wenn die Liebste, sich gerade freut, die Sommersprossen, die einen verwegen aussehen lassen, die Narbe von der Operation ohne die man jetzt nicht mehr am Leben wäre?

Hat genau dieser Augenblick, in dem ich meinen Lieblingstee trinke und den Regen auf die Blätter vor meinem Fenster prasseln höre, nicht auch etwas vollkommenes? Gemütlich ist es auf jeden Fall.

Wer weiß, was Ira gerade macht. Laut Wetterbericht ist es gerade auch in Griechenland ungewöhnlich kalt und regnerisch für diese Jahreszeit.

Ich hoffe für sie, dass sie gerade auch gemütlich im Warmen sein kann. Fotos davon werde ich mit Sicherheit nicht zu sehen bekommen.

Ganz ehrlich, ich habe mich lange unbewusst davor gedrückt, diesen Blog zu starten. Er sollte doch ein glückliches Lebensgefühl bei meinen LeserInnen auslösen. Und dazu sollte er perfekt sein. Wirklich?

Seid ihr glücklicher, wenn dieser Artikel perfekt ist? Und da haben wir es wieder? Was ist denn nun perfekt? Der eine wird diesen Artikel total bescheuert finden, die andere wird sich vielleicht wiedererkennen, der nächste freut sich, dass auch andere es wagen, keine perfekten Artikel zu schreiben. Letztlich kommt es doch darauf an, wie man sich selbst fühlt, was für ein Gefühl etwas bei einem auslöst. Und wäre es nicht völlig absurd einen perfekten Artikel auf einem Blog zu veröffentlichen, in dem es doch um das Glück im Unperfekten geht?

Eben. Und genau das ist es doch. Wer oder was perfekt ist, entscheiden wir selbst.

Jede*r ist auf ihre oder seine Art, perfekt, eben gerade weil wir alle unterschiedlich und anders sind und somit etwas Besonderes. Manchmal ist gerade das Unperfekte perfekt.

Hence, stay as you are: Perfectly imperfect.

Es sind die perfekten Momente mit unperfekten Menschen, die das Leben vollkommen machen.

Warum sollte ich perfekt sein, wenn ich so wunderbar fehlerhaft sein kann?

Stell dir vor, du bist schon lange gut, so wie du bist, und merkst es nur nicht.



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